05.07.1918
Korschenbroich
–
16.10.2001
Norwalk
Alfred stammte aus einer großen jüdischen Familie aus Korschenbroich. Nach Beendigung seiner Schulzeit arbeitete er im Geschäft seines Vaters, des Viehhändlers Julius Winter. Zwei seiner Brüder emigrierten angesichts der zunehmenden Verfolgungen nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Nach der Pogromnacht am 9./10.11.1938 wurden sein Vater und sein Bruder Kurt inhaftiert; anschließend musste die Familie das Geschäft und das gesamte Familieneigentum verkaufen. Die geplante Emigration zu dem nach Chile ausgewanderten Bruder Bruno scheiterte wegen des Kriegsausbruchs. Am 11.12.1941 wurde Alfred mit der in Korschenbroich verbliebenen Familie vom Düsseldorfer Schlachthof in das Ghetto Riga deportiert. Er überlebte das Ghetto und mehrere Konzentrationslager. Am 9.5.1945 befreite ihn die Rote Armee aus dem KZ Theresienstadt. Nach dem Krieg sagte Alfred als Zeuge in mehreren NS-Prozessen aus. Er heiratete die Holocaust-Überlebende Grete Wolf und emigrierte nach Schweden, wohin auch die übrigen Angehörigen der Familie emigriert waren. 1949 reisten die Winters in die USA aus. Nach dem Tod von Grete im Jahr 1974 heiratete Alfred Edith Rosen aus Mönchengladbach, die wie er das Ghetto Riga überlebt hatte.
Literatur und Quellen:
Rüther, Martin: „Spätere Geschlechter können sich keinen Begriff machen!“ Die Zeit des Nationalsozialismus in
Glehn, Liedberg, Kleinenbroich, Korschenbroich und Pesch 1939 bis 1945, Korschenbroich 2008 (Schriften des Stadtarchivs Korschenbroich, Bd. 4), S. S. 176-189;
Schupetta, Ingrid: Riga - Massenmord und Arbeitseinsatz (2011) (http://www.villamerlaender.de/fileadmin/userfolders/downloads/Riga_2011.pdf);
Winter, Alfred: The ghetto of Riga and continuance, 1941-1945, [Monroe/Connecticut] : A. Winter, 1998
USC Spielberg Foundation, Interview mit Alfred Winter (7.11.1996 in Connecticut/USA): https://www.youtube.com/watch?v=clOEqMdxG3U
Text: Joachim Schröder
Alfred stammte aus einer großen jüdischen Familie aus Korschenbroich. Die Eltern, der Viehhändler Julius Winter und Henriette Schwarz stammten ebenfalls von hier. Alfred hatte vier Brüder und eine Schwester und sie lebten in einem großen Haus in der Steinstraße 4 in Korschenbroich, wo der Vater auch sein Geschäft führte. Seine Mutter starb schon 1925 an Krebs, kurz darauf heiratete Julius ihre Schwester, Fanny Schwarz, die ihrerseits bereits verwitwet war. Die Kinder kamen mit ihrer Tante immer gut zurecht. Alfred besuchte die Oberrealschule in Mönchengladbach, wo er schon erstmals mit dem ansteigenden Antisemitismus konfrontiert wurde.
Kurz nach der Machtübernahme 1933 wurde auch das Geschäft seines Vaters boykottiert. Größere Probleme traten allerdings erst nach 1935, dem Jahr der Verkündung der „Nürnberger Gesetze“ auf. Auch in der Öffentlichkeit wurden Alfred und seine Geschwister nun beschimpft. Der Zutritt zu Cafés, Restaurants und Kinos war ihnen verboten.
Die Geschwister wollten das Land verlassen, doch ihr Vater Julius, der wie seine sieben Brüder als Soldat im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte, wollte nicht weg. Er hoffte lange, dass das NS-Regime nur von kurzer Dauer sein würde. Alfreds Zwillingsbruder Erich wollte nicht warten: er floh nach Frankreich und meldete sich bei der französischen Fremdenlegion (er starb im März 1945 bei Kämpfen in Indochina). Sein Bruder Bruno floh im Jahr 1936, nachdem ihn ein SS-Angehöriger bei der Gestapo wegen „Rassenschande“ angezeigt hatte. Es gelang ihm, nach Chile zu emigrieren.
In der Pogromnacht, am 9./10.11.1938 zerstörten SA-Angehörige das Geschäft des Vaters, der zudem noch drei Monate lang inhaftiert wurde. Alfred und sein jüngerer Bruder Herbert hatten Glück und wurden von der Haft verschont. Nach seiner Entlassung musste Julius sein Eigentum zu einem Spottpreis verkaufen, die männlichen Familienangehörigen wurden fortan zur Zwangsarbeit herangezogen. Alfred wurde zunächst beim Autobahnbau, dann bei einer Düsseldorfer Recyclingfirma eingesetzt. Sie bereiteten nun auch die Ausreise nach Chile vor; sie scheiterte jedoch wegen des Kriegsausbruchs im September 1939.
Im November 1941 erhielt die Familie die Nachricht, dass sie zum „Arbeitseinsatz“ in den Osten „evakuiert“ werden würde. Jeder durfte 20 kg Gepäck mitnehmen. Alfred und Kurt wollten noch kurz vor der Abfahrt heirateten, aber nur Kurt erhielt die Erlaubnis – am 6.12.1941 heiratete er die aus Rheydt stammende Hilde Zander. Am 10.12.1941 wurden die Winters: Alfred, Kurt & Hilde, Herbert, Julius & Fanny, Grete und ihr Mann Alfred Cohnen zum Düsseldorfer Schlachthof gebracht. Dort wurden sie tatsächlich, wie sich Alfred erinnerte, wie Vieh behandelt. Sie mussten die ganze Nacht in der kalten Viehhalle verbringen, Gestapobeamte durchsuchten das Gepäck und beschlagnahmten, was ihnen gefiel. Am frühen Morgen des 11.12.1941 mussten sie zu Fuß zum Güterbahnhof laufen und bestiegen den Zug, der vollkommen überfüllt war.
Deportation in das Ghetto Riga
Nach mehreren Tagen beschwerlicher Fahrt erreichten sie das Ghetto in Riga. Die Ankunft war ein Schock. Zunächst informierte sie der SS-Kommandant über die zahlreichen Vorschriften und Verbote, die jeweils mit „Erschießen“ geahndet wurden. Dann bezogen sie ein Zimmer in der „Düsseldorfer Straße“, in der alle Angehörigen dieser Deportation untergebracht wurden. Auf der Straße und in der Wohnung waren überall Blutspuren, das Essen stand noch auf dem Tisch, zurückgelassen von den lettischen Juden, die kurz zuvor in einer großen „Aktion“ von der SS ermordet worden waren.
Nach einigen Tagen wurden Alfred und seine Brüder Kurt und Herbert zu einem Arbeitskommando nach Salaspils geschickt. Hier musste ein neues Arbeitslager errichtet werden, da das Ghetto für die aus dem Reich dorthin deportierten Menschen zu klein war. Die Arbeits- und Lebensbedingungen bei diesem Kommando waren katastrophal, die Häftlinge starben zu Hunderten. Immer wieder exekutierte die SS Häftlinge aus den nichtigsten Anlässen. Alfred und Kurt wurden einem Kommando zugeteilt, das in dem tief gefrorenen Boden und ohne jede Schutzkleidung Gräber für die Gestorbenen graben und sie bestatten musste. Hierbei infizierte sich Kurt, er starb am 27.4.1942. Auch Herbert erkrankte in Salaspils, konnte jedoch gerettet werden.
Im Mai 1942 kam Alfred kurz zurück ins Ghetto und war glücklich, seine engere Verwandtschaft wieder anzutreffen. Er traute sich nicht, über die katastrophalen Zustände und die vielen Toten zu berichten, die er hatte beerdigen müssen. Er wollte nicht noch mehr Panik unter den Ghetto-Insassen verbreiten, die ihrerseits noch unter dem schweren Schock der „Dünamünde-Aktion“ standen. Die SS hatte im März 1942 nicht mehr oder noch nicht arbeitsfähige Ghetto-Insassen aussortiert. Unter dem Vorwand, sie würden in einer Konservenfabrik zu leichteren Arbeiten herangezogen, wurden sie tatsächlich in den nahegelegenen Wald von Bikernieki gebracht und ermordet.
Alfred kam Ende Mai noch einmal, bis Juli 1942, in das KZ Salaspils. Nach seiner Rückkehr ins Ghetto musste er zunächst zehn Monate in einer Werkstatt des in Riga stationierten „Einsatzkommandos 2“ arbeiten, ein Kommando aus SS-, Gestapo und Polizeiangehörigen, das für tausendfachen Mord verantwortlich war. Das Kommando war sehr gefährlich, insbesondere, wenn die SS-Angehörigen betrunken waren. Andererseits kam Alfred in Kontakt mit lettischen Arbeitern, mit denen er gegen Wertsachen Lebensmittel eintauschen und damit seine Familienangehörigen unterstützen konnte. Seine Eltern, Herbert, Hilde, Grete und sein Schwager Alfred, der bei der jüdischen Ghetto-Polizei arbeitete, waren noch am Leben.
Mitte September 1943 wurde die Familie erneut auseinandergerissen, als Alfred in das neu errichtete KZ Kaiserwald kam. Immer mehr Arbeitskommandos wurden aus dem Ghetto abgezogen, Anfang November 1943 wurde es ganz aufgelöst. Fanny Winter schaffte es nicht: Sie gehörte zu den über 2.000 älteren, kranke Menschen und Kindern, die als „nicht mehr arbeitsfähig“ nach Auschwitz deportiert und ermordet wurden.
Alfred kam vom KZ Kaiserwald im Oktober 1943 in das KZ Dundangen; die übrige Familie wurde in ein Arbeitslager des Armeebekleidungsamtes (ABA) nach Mühlengraben in der Nähe von Riga verlegt. Die Front rückte immer näher, so dass die Häftlinge im Oktober 1944 nach Libau verlegt wurden. Hierhin wurden auch die Häftlinge aus Dundangen im November 1944 auf einem brutalen Todesmarsch getrieben. Erneut wurde die Familie auseinandergerissen: Alfred Winter kam zunächst in das bei Danzig gelegene KZ Stutthof, die übrige Familie wurde per Schiff nach Hamburg gebracht und zunächst im Polizeigefängnis Fuhlsbüttel, dann im Arbeitserziehungslager „Nordmark“ bei Kiel inhaftiert. Dort wurden sie am 30.4.1945 befreit und vom schwedischen Roten Kreuz gerettet. Alfred dagegen wurde noch in das KZ Buchenwald verlegt und überlebte einen weiteren Todesmarsch in das KZ Theresienstadt, wo er endlich am 9.5.1945 von der Roten Armee befreit wurde.
Die Befreier verpflichteten ihn noch, einen Monat lang bei der Bergung der Hunderten von Toten zu helfen, die kurz vor und auch noch nach der Befreiung an Entkräftung und Krankheiten gestorben waren. Im Juli 1945 kehrte Alfred nach Korschenbroich zurück. Als erstes nahm er das Haus der Familie wieder in Besitz und ließ sich im Februar 1946 in den Entnazifizierungsausschuss wählen. Von Juli bis Oktober 1947 reiste er für drei Monate nach Nürnberg, wo er als Zeuge im Prozess gegen ehemalige Angehörige der SS-Einsatzgruppen aussagte. Er war erschüttert von der z.T. nachsichtigen Behandlung der Mörder und hätte es bevorzugt, wie er später (1996) sagte, wenn auf radikalere Weise Gerechtigkeit geübt worden wäre.
In Nürnberg lernte Alfred Grete Wolf kennen, die für die amerikanische Besatzungsmacht arbeitete. Sie wollten nicht länger in Deutschland bleiben und emigrierten nach Schweden, wo auch die übrigen Familienangehörigen lebten. Alfred und Grete heirateten im Juli 1948 in Göteborg. Ein Jahr später wanderten sie nach Chicopee (Massachusetts/USA), wo Alfred bis zum Tod Gretes 1974 lebte. Er lernte bald darauf seine zweite Frau, Edith Rosen, kennen, wie er eine Überlebende des Rigaer Ghettos. Mit ihr zog er nach Norwalk/Connecticut, wo er bis zu seinem Tod lebte. Alfred kam noch zweimal in das Land zurück, das nicht mehr seine Heimat war. 1970 sagte er in einem weiteren NS-Verfahren in Hamburg aus, einige Jahre später besuchte er noch einmal seine Heimatstadt Korschenbroich. Seine schrecklichen Erlebnisse, die bis zum Schluss in Albträumen wiederkehrten, verarbeitete er in einem eigenen Buch.
Text: Joachim Schröder
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