07.11.1921
Emmerich
–
20.01.2002
Atlanta
Sophie Nathan lebte bis 1938 mit ihrer Schwester und ihren Eltern in Emmerich. Als sie 1938 die Schule aufgrund ihrer jüdischen Herkunft verlassen musste, ging sie zum Arbeiten nach Köln. Kurze Zeit arbeitete sie auch in einem jüdischen Kinderheim bei Hannover, kehrte aber dann nach Emmerich zurück. Am 11.12.1941 wurden sie und ihre Familie in das Ghetto Riga deportiert. Dort starb ihr Vater aufgrund fehlender medizinischer Versorgung. Als die SS im November 1943 das Ghetto auflöste, wurden Sophie, ihre Schwester und ihre Mutter in das KZ Stutthof verschleppt, später in das KZ Fuhlsbüttel bei Hamburg. Von dort aus ging es Mitte April 1945 auf einem 100 Km langen „Todesmarsch“ in ein Lager bei Kiel. Sophies Mutter wurde todkrank, doch sie hatten Glück: Sie gehörten zu den wenigen Häftlingen, die kurz vor Kriegsende vom dänischen Roten Kreuz evakuiert werden durften. Die Nathans zogen zu Verwandten nach Stockholm und planten ihre Ausreise in die USA. Im April 1946 erreichten sie New York, wo Sophie ihre alte Jugendliebe aus Emmerich, Henry Nathan, traf, der 1936 dorthin emigriert war. Sie heirateten, zogen nach Atlanta und bekamen zwei Söhne, Mark und George. Sophie litt bis an ihr Lebensende an den traumatischen Folgen ihrer Verfolgung. Sie verzichtete auf Entschädigung, da sie mit Deutschland nichts mehr zu tun haben wollte.
Literatur und Quellen:
Interviews mit Sophie Nathan (1983/1992), United States Holocaust Memorial (1992) http://collections.ushmm.org/search/catalog/irn508094;
Website des William Breman Jewish Heritage Museum (Atlanta, Georgia/USA) (http://www.newlives.thebreman.org/profile.php?ID=41)
Text: Stefan Mühlhausen
Sophie Nathan lebte mit ihrer Schwester Emmi (Amy) und ihren Eltern Georg (George) und Thekla (Thea) Nathan bis 1938 in Emmerich. Sophies Vater Georg arbeitete als selbstständiger Kaufmann. Sophie besuchte ein Gymnasium. Vor 1933 nahm sie keine Anzeichen von Antisemitismus wahr. Dies änderte sich jedoch nach der Machtübernahme der Nazis. Viele nicht-jüdische Freund/innen wurden Mitglied in der Hitlerjugend oder dem BDM und wandten sich von ihr ab. Ab 1936 wanderten die ersten jüdischen Freund/innen und Bekannten aus und auch Sophie wollte nach Israel (damals Palästina), doch ihr Vater ließ sie nicht alleine auswandern. Er war der Meinung, dass ihm und seiner Familie niemand schaden würde, da er sein ganzes Leben lang bereits in Emmerich wohnte und die Familie dort auch nach wie vor Kontakt zu vielen nicht-jüdischen Familien hatte.
Sophie wollte das Abitur bestehen und danach Kinderpflegerin werden. Doch 1938, also drei Jahre vor dem Abitur, durfte sie ihre Schule nicht weiter besuchen, da sie jüdisch war. Stattdessen ging sie nach Köln, um dort zu arbeiten. Die Pogromnacht vom 9./10. November 1938 erlebte Sophie in Köln und Onkel von ihr, die auch in Köln lebten, flohen nach dem Pogrom ins Ausland. Ihr Vater Georg wurde in der Nacht festgenommen, in ein Gefängnis gesperrt und ihm wurde seine Kaufmanns-Lizenz entzogen, so dass er danach, als er wieder frei kam, seinen Beruf nicht mehr ausüben konnte. Sophie kam 1939 zurück nach Emmerich, fand dort aber keine Arbeit. Sie zog zu einem Onkel, der in der Nähe von Hannover lebte, und arbeitete dort ab Mai 1939 in einem Heim für jüdische Kinder.
Die Deportation und das Leben in Riga
Im November 1941 bekamen Sophies Eltern den Bescheid, dass sie und ihre Töchter am 11. Dezember über Düsseldorf nach Riga gebracht werden würden. Als die Familie am 10. Dezember am Schlachthof in Derendorf ankam, hatten sie keine Ahnung was sie in Riga erwarten würde. Auf der dreitägigen Fahrt nach Riga gab es für die Zuginsassen nichts zu essen. Die wenigen Male, als der Zug anhielt, war es einigen erlaubt, Schüsseln und Töpfe mit Schnee zu füllen, damit sie wenigstens etwas Flüssigkeit auf der Fahrt zu sich nehmen konnten. Am 14. Dezember 1941 erreichte der Zug Riga und nach einem fast zweistündigen Fußmarsch erreichten sie das Ghetto.
Die Familie Nathan musste sich eine winzige Baracke mit neun weiteren Menschen teilen. Als sie ihre Baracke zum ersten Mal betraten, fanden sie einen Topf mit Kartoffeln und eine Kanne Tee vor. Später fanden sie heraus, dass vor ihnen lettische Juden in den Baracken untergebracht worden waren und dass diese, ein paar 2Tage vor der Ankunft der neuen Ghettobewohner, in eine Synagoge gebracht und dort verbrannt worden waren. Die gekochten Kartoffeln und der aufgesetzte Tee zeugten davon, dass die Menschen ohne Vorwarnung aus ihrer Baracke verschleppt worden waren.
Sophie und ihre Schwester kamen schnell zu ihrem ersten Zwangsarbeitseinsatz: Sie mussten die Kleidung der ermordeten lettischen Juden sammeln und sortieren. Dabei nahmen sie auch Kleidung an sich, unter hohem Risiko erwischt zu werden, um diese gegen Nahrung tauschen zu können. An Lebensmitteln mangelte es nämlich immer im Ghetto. Sophie musste auch außerhalb des Ghettos Zwangsarbeit leisten, was sie bevorzugte, denn dadurch bestand die Möglichkeit an Lebensmittel zu kommen oder zumindest an Gegenstände, die sich dafür tauschen ließen. Es war meistens körperlich schwere Arbeit, wie Schnee schaufeln oder LKWs Be- und Entladen. Außerdem musste sie Strandhäuser für deutsche Offiziere bezugsfertig vorbereiten und von 1942 bis 1943 lebte sie arbeitsbedingt sogar außerhalb des Ghettos. Sophie musste sich um den Haushalt dieser lettischen Juden kümmern, lebte bis 1943 bei ihnen und wurde dadurch auch besser versorgt.
Ihre Familienangehörigen lebten weiterhin im Ghetto und arbeiteten für die SS und die Wehrmacht. Dadurch wurden sie 1942 verschont, als die SS bei verschiedenen sogenannten Aktionen Kranke, alte Menschen und Kinder aus dem Ghetto verschleppte und ermordete. Außerdem hatten sie Glück, dass sie ein paar Mal von einem ihnen wohl gesonnenen Soldaten vor solchen „Aktionen“ geschützt wurden. Sophie erinnerte sich später, dass es ein paar wenige anständige Soldaten bzw. SS-Männer im Ghetto gab.
Sophies Vater überlebte das Ghetto in Riga nicht. Im Mai 1942 starb er an einer Krankheit aufgrund von fehlender medizinischer Versorgung. Es gab zwar ein Krankenhaus mit jüdischen Ärzten und Krankenschwestern, aber Medizin bzw. Medikamente gab es nicht. Neben dem Krankenhaus versuchte ein Kölner Lehrer auch eine Art Schule einzurichten, in der er nachts unterrichtete. An Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, hatten die Ghettoinsassen als Schikane noch härter zu arbeiten und auch Erhängungen am Sabbat waren keine Seltenheit. Da die Rote Armee immer näher rückte, wurden Sophie, ihre Mutter und ihre Schwester im September 1944 nach Libau (Schlesien) verschleppt, wo Sophie v.a. Lastwagen der Wehrmacht beladen musste.
Das Leben nach dem Ghetto in Riga und die Befreiung
Im Februar 1945 wurde die Familie Nathan nach Hamburg gebracht. Dort wurden sie in eine kleine Gefängniszelle gesperrt, welche noch nicht einmal eine Schlafmöglichkeit bot, sodass sie auf Holzstühlen schlafen mussten. Dort blieben sie bis Mitte April 1945 ehe sie einen rund 100 Km langen Fußmarsch in das Arbeitserziehungslager „Nordmark“ in der Nähe von Kiel antreten mussten. In diesem Lager herrschten besonders katastrophale Bedingungen. Es gab am Tag nur eine Scheibe Brot zu essen, keine Möglichkeiten der Hygiene und überall waren Läuse. Aufgrund dieser Bedingungen erkrankte ihre Mutter schwer und eine medizinische Versorgung gab es nicht.
Die Nathans hatten Glück, dass sie nach zwei Wochen aus diesem Lager befreit wurden. Eine weitere Woche hätte ihre Mutter wohl nicht überlebt. Am 30. April 1945 kamen LKWs des dänischen Roten Kreuzes ins Lager, um die Insassen zu befreien. Auf ihrem langen Leidensweg hatte Sophie erfahren, dass viele Juden von LKWs aus den Lagern geholt worden waren und danach ins Gas geschickt worden waren, weshalb sie beim Anblick der LKWs zunächst erschrak. Auch als sich das dänische Rote Kreuz als Befreier zu erkennen gab, konnten es die Nathans zunächst kaum glauben. Sophie, ihre Mutter und Schwester wurden zuerst nach Kopenhagen gebracht und versorgt. Danach ging es für sie nach Schweden. Die schwedische Bevölkerung empfing sie sehr herzlich. Es wurde sich sehr gut um sie gekümmert. Ärzte betreuten die Befreiten rund um die Uhr und sie konnten in einer Schule übernachten, die die schwedische Bevölkerung zu einem Notquartier umfunktioniert hatte.
Nach der Befreiung
Die Nathans hatten Verwandte in Stockholm, wohin sie ein paar Wochen später reisten. Sophie und Emmi konnten dort als Hausmädchen arbeiten und zum ersten Mal seit ihrer Deportation hatten die Nathans ein normales Alltagsleben. Sie fassten den Plan, in die USA auszureisen, um dort ein neues Leben anzufangen. Dafür sparten sie Geld, das jedoch nicht ausreichte. Doch ihre zahlreichen überlebenden Verwandten, die in der ganzen Welt verstreut lebten, finanzierten die Ausreise der Nathans in die USA. Im April 1946 kamen die Nathans in New York an. Dort traf Sophie ihre alte Jugendliebe aus Emmerich, Henry Nathan. Sechs Monate später heirateten sie und zogen nach Anniston in Alabama, da dort die Eltern von Henry Nathan lebten. Mit Henry Nathan bekam Sophie später noch die beiden Söhne George und Mark. Sophie litt bis zu ihrem Tod an den Folgen von dem, was ihr und ihrer Familie angetan worden war. Ihre Mutter bekam eine Witwenrente und Entschädigungszahlungen aus Deutschland. Sophie wollte keine Entschädigung. Sie wollte mit Deutschland nichts mehr zu tun haben.
Text: Stefan Mühlhausen
Der Stammbaum wird aktuell überarbeitet und ist bald wieder verfügbar. Vielen Dank für Ihre Geduld.