07.06.1923
Essen
–
22.12.1996
Liverpool
Marianne Strauß wuchs in einem gutsituierten, jüdischen Elternhaus in Essen auf. Durch Verbindungen zur militärischen Abwehr war die Familie zunächst vor den 1941 einsetzenden Deportationen geschützt, anders als ihr Verlobter Ernst Krombach. Er wurde mit seiner Familie im April 1942 in das Ghetto Izbica deportiert. Marianne gelang es, ihm Briefe und Pakete zukommen zu lassen und sie erhielt auch Nachrichten über die katastrophalen Zustände im Ghetto, bis der Kontakt im Sommer 1942 abbrach. Im September 1943 wurde auch die Familie Strauß deportiert. Im letzten Augenblick konnte Marianne untertauchen, eine abenteuerliche Flucht begann. Während ihre Familie ermordet wurde, überlebte Marianne mit Unterstützung zahlreicher Menschen bis zu ihrer Befreiung am 17.4.1945 in Düsseldorf. Sie emigrierte nach Großbritannien, lernte dort den Engländer Basil Ellenbogen kennen und gründete mit ihm eine Familie. Über ihr Leben und den einzigartigen Briefverkehr mit ihrem Verlobten Ernst Krombach berichtet der englische Historiker Mark Roseman.
Literatur und Quellen:
Roseman, Mark: In einem unbewachten Augenblick. Eine Frau überlebt im Untergrund, Berlin 2002
Biographien der Familien Krombach und Strauß, Archiv Alte Synagoge Essen
NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln: „Jugend! Deutschland 1918-1945“ (www.jugend1918-1945.de)
Text: Hannelore Steinert
Es ist ein gutsituiertes Elternhaus, in das Marianne Strauß hineingeboren wird. Sie und ihr jüngerer Bruder Richard wachsen behütet in einer jüdischen Familie auf, die stolz ist auf ihre lange Tradition in Deutschland. Marianne besucht die jüdische Volksschule und ab 1933 die Luisenschule in Essen. Dort ist sie zunehmend den Hänseleien der nichtjüdischen Mädchen ausgesetzt, die alle im BDM organisiert sind. Marianne wechselt im November 1938 auf die (jüdische) Jawne-Schule in Köln, wohin sie täglich mit der Bahn fährt.
Ab März 1939 besucht sie in Berlin ein jüdisches Seminar, in dem Kindergärtnerinnen ausgebildet werden. In Berlin arbeitet Marianne Strauß auch einige Monate im Säuglings- und Kleinkinderheim und erlebt, wie viele Kinder und deren Eltern und Lehrer deportiert werden. Weitgehend unbehelligt kann der Vater sein Geschäft weiterführen bis zum Novemberpogrom 1938. Siegfried Strauß und sein Bruder Alfred werden verhaftet und mehrere Wochen im KZ Dachau interniert. Ihrem Vater gelingt es, zum Geheimdienst, der „Abwehr“ um Wilhelm Canaris, Kontakte aufzubauen, so ist die Familie vorübergehend vor Deportationen geschützt.
Im Oktober 1941 soll Familie Strauß mit dem ersten großen Transport aus Essen in das Getto Lodz/Litzmannstadt deportiert werden. Während der Fahrt zum Hauptbahnhof stoppt die Gestapo die Straßenbahn und holt die Familie Strauß unter zornigen und neidischen Blicken aller Anderen ohne nähere Erklärung aus der Bahn. Der Versuch, nach Amerika zu emigrieren, scheitert, obwohl Siegfried Strauß umfangreiche Bestechungsgelder an städtische Beamte und Gestapobeamte zahlt. Während ihres Aufenthaltes in Essen hat Marianne Strauß den zwei Jahre älteren Ernst Krombach, Sohn einer angesehenen Essener Familie, kennen gelernt und sich in ihn verliebt. Marianne geht zurück nach Berlin, um ihre Ausbildung zu beenden. Ernst Krombach und Marianne Strauß – sie nennen sich Ernest und Jeanne – wechseln zahlreiche Briefe, bis Marianne im Februar 1942 ihre Ausbildung erfolgreich abschließt und nach Essen zurück kehrt. Sie arbeitet im Kindergarten der jüdischen Gemeinde. In jeder freien Minute trifft sich das Paar.
Im April 1942 erhalten Dr. David Krombach, seine Frau Minna und der Sohn Ernst die Nachricht, dass sie für den Transport „nach Osten“ am 21. April 1942 vorgesehen sind. Ernst und seine Familie werden im Lager Holbeckshof in Essen interniert, Marianne nutzt jede Gelegenheit, ihn im Lager zu besuchen. In der Nacht vor der Deportation schreibt Ernst einen Abschiedsbrief an Marianne, der mit den Worten endet: „Glück auf, Jeanne! Du lebst ständig und ewig in Deinem Ernst.“ (Roseman, 200)
Am 21. April 1942 fährt ein Personenzug von Essen nach Düsseldorf, von dort geht am 22. April der Zug nach Izbica in Polen ab. Marianne kann noch zum Abschied auf den Essener Hauptbahnhof kommen. Das Paar wird sich nie wieder sehen. Marianne Strauß beginnt, ein „Brieftagebuch“ für Ernst zu schreiben, dessen erste Blätter sie ihm schicken will, sobald sie seine Adresse hat. Ernst Krombach schreibt noch auf der Fahrt nach Izbica mehrere Postkarten an Marianne – die Korrespondenz wird noch bis August 1942 fortgesetzt. Über 100 Päckchen mit Geld, Kleidung und Lebensmitteln schickt Marianne an Familie Krombach, die aber nur unregelmäßig eintreffen.
Ohne die Hilfe eines jungen Wehrmachtssoldaten wäre die Übermittlung der Briefe und Pakete nicht möglich gewesen. Christian Arras, dessen Familie eine LKW-Werkstatt betreibt, ist vom Wehrmachtsdienst freigestellt. Er bringt reparierte LKWs zurück nach Polen und eines Tages auch nach Izbica. Bei einer Fahrt Anfang August 1942 nimmt er einen Koffer mit Kleidung und Lebensmitteln für die Familie Krombach mit und bringt einen Stapel Briefe von Ernst für Marianne zurück. Auf Grund der Postsperre und der Zensur waren die Briefe gar nicht erst abgeschickt worden. Marianne erhält u. a. einen 18seitigen Brief, in dem Ernst Krombach ungeschönt die wahren Lebensumstände in Izbica beschreibt. Von Deportationen, Hunger, Willkür und Zwangsarbeit ist die Rede. „Jeanne, das ist nichts für Dich! Es werden noch so viele drauf gehen, davon bin ich überzeugt…“. (Roseman, 239) Er bittet sie eindringlich, Deutschland zu verlassen.
Die Nachrichten von Ernst Krombach aus Izbica werden spärlicher und nach einer weiteren Fahrt bringt Christian Arras schreckliche Neuigkeiten: Ernst ist nach einem Arbeitsunfall erblindet, der Vater ist tot, die Mutter in ein Vernichtungslager deportiert. Marianne ist klar, dass Ernst keine Überlebenschancen mehr hat. Neujahr 1943 bricht Marianne das Brieftagebuch ab. Sie versucht verzweifelt, über das Rote Kreuz Kontakt herzustellen. Am 13. März 1943 erhält sie die Nachricht, „dass der Obengenannte nicht mehr in dem Lager zu erreichen ist und weitere Nachforschungen zwecklos sind.“ (Roseman, 264)
Ende August 1943 bekommt auch die Familie Strauß die Aufforderung, ihre Koffer für den „Abtransport nach Osten“ zu packen. Marianne kennt aus Ernsts Briefen die Zustände in den Lagern im Osten und will auf gar keinen Fall freiwillig gehen. Ihr Vater steckt ihr mehrere Hundert Reichsmark zu und sie rennt aus dem Haus. Sie rannte um ihr Leben immer in der Befürchtung, erschossen zu werden. Sie läuft kreuz und quer durch die Stadt, bevor sie das Ehepaar Jacobs aufsucht. Artur und Dore Jacobs führen einen illegalen, sozialistischen Zirkel, den „Bund“. Dieses Netzwerk wird in den nächsten zwei Jahren Mariannes Überleben sichern. Sie wird in dem Blockhaus des „Bundes“ im Essener Stadtwald untergebracht. Marianne fürchtet, ihre Familie in Gefahr gebracht zu haben, sie ist kurz davor, sich zu stellen, am Schicksal der Familie würde dies nicht ändern. Mariannes Eltern und ihr Bruder Richard werden am 9. September 1943 nach Theresienstadt deportiert.
Marianne kann nicht immer in dem Blockhaus bleiben. Zwischen Oktober 1943 bis Februar 1945 muss sie ca. 50 „Reisen“ durch das gesamte Reichsgebiet unternehmen, sie wird bei Familien in Braunschweig, Göttingen, Remscheid etc. untergebracht. Dort lebt sie ganz offen. Die Frauen sind froh, eine Hilfe für die Familie zu bekommen, manche „leihen“ Marianne ein Kleinkind, denn als junge Mutter fällt sie nicht auf. Die Verfolgungssituation geht Marianne Strauß selbstbewusst an. Bei Zugkontrollen gelingt es ihr meistens, den Waggon rechtzeitig zu verlassen. Wird sie von einem Schaffner angesprochen, erfindet sie irgendwelche Entschuldigungen oder beschwert sich lautstark über die schlechte Behandlung. Sie hatte sich, bedingt durch ihre Situation, verändert – aber die Angst entdeckt zu werden war allgegenwärtig.
Im April 1944 nimmt Marianne wieder das Tagebuchschreiben auf. Sie hält sich zu dieser Zeit in Remscheid bei der Familie Briel auf. Ohne besondere Tarnung nimmt sie Pfingsten 1944 an einer illegalen Studienreise des „Bundes“ teil. Dem „Bund“ wird das offene Auftreten der jungen Frau zu gefährlich und man schickt Marianne zu entfernten Verwandten ihrer Familie nach Norddeutschland. Im Juni 1944 erfährt Marianne über die deutschen Sendungen der BBC von den Verhältnissen in Theresienstadt und von einem geplanten „Massaker“. Sie weiß zu diesem Zeitpunkt nicht, dass ihre Eltern und ihr Bruder bereits im Dezember 1943 aus Theresienstadt nach Auschwitz deportiert und dort ermordet worden sind.
Ende 1944 hat Marianne Strauß ein „Empfehlungsschreiben“ erhalten, sie soll sich bei einer ihr unbekannten Frau in Düsseldorf melden. Diese nimmt sie ohne zu zögern auf. Am 3. März erreichen alliierte Truppen den Westen von Düsseldorf, die beiden Frauen befinden sich jedoch auf der anderen Rheinseite. Bis zu 23 Stunden täglich harren sie im Bunker aus, immer mit der Befürchtung, bei einer Kontrolle entdeckt zu werden.
Am 17. April 1945 wird Düsseldorf von den amerikanischen Truppen befreit. Marianne Strauß ist frei, die jahrelange Flucht beendet. Marianne Strauß wohnt noch eineinhalb Jahre in Düsseldorf. Sie bekommt eine Anstellung beim Arbeitsamt, wird Mitglied der KPD. Durch ihre Erfahrungen mit dem „Bund“ hat sie sich zu einer politischen Persönlichkeit entwickelt. Sie gibt 1946 ihre Anstellung beim Arbeitsamt auf und arbeitet als freie Journalistin und Theaterkritikerin. Außerdem produziert sie Sendungen für das deutschsprachige Programm der BBC.
Über den Tod ihrer Familie ist sie inzwischen informiert, das ungenaue Schicksal Ernst Krombachs macht ihr immer noch zu schaffen. Inzwischen hat sie Basil Ellenbogen kennen gelernt, einen jungen jüdischen Truppenarzt der britischen Armee. Basil und Marianne verlieben sich ineinander, im Herbst 1946 folgt sie ihm nach England, im Dezember heiraten sie. Die Kinder Vivian und Elaine werden 1947 und 1951 geboren. Erst kurz vor ihrem Tod berichtet Marianne dem Historiker Mark Roseman über ihre Erlebnisse, gibt ihm ihre Briefe. In diesem Arbeitsprozess stirbt Marianne Strauß-Ellenbogen am 22.12.1996, Mark Roseman führt die Arbeit an der Biographie allein zu Ende.
Text: Hannelore Steinert
Der Stammbaum wird aktuell überarbeitet und ist bald wieder verfügbar. Vielen Dank für Ihre Geduld.