12.04.1915
Mönchengladbach
–
30.03.2018
Düsseldorf
Für Ende 1939 hatte die Familie Frenkel aus Rheydt die Auswanderung nach Brasilien vorbereitet – das verhinderte der Kriegsausbruch. Liesel Ginsburg, ihre Eltern und ihr Bruder wurden am 10. Dezember 1941 zum Düsseldorfer Schlachthof gebracht und am nächsten Tag mit mehr als tausend weiteren niederrheinischen Juden nach Riga im besetzten Lettland deportiert. Sie überlebte das Ghetto in Riga, die Konzentrationslager Kaiserwald und Stutthof und den Todesmarsch kurz vor der Befreiung durch die sowjetische Armee in Pommern. Ihr Vater verhungerte nach einem halben Jahr der Haft im Rigaer Ghetto, ihre Mutter wurde im November 1943 nach Auschwitz in den sicheren Tod deportiert, ihr Bruder Hans kurz vor Kriegsende im KZ Buchenwald ermordet. Auf strapaziösen Wegen gelangte Liesel im Juli 1945 nach Rheydt zurück. Dort eröffnete sie ein halbes Jahr später eine Textilhandlung, die sie bis 1973 betrieb. 1949 heiratete sie Alexander Ginsburg, den sie 1942 als Leidensgenossen in Riga kennengelernt hatte. Die Familie Ginsburg lebte ab 1957 in Köln.
Literatur und Quellen:
Ginsburg, Liesel: Erinnerungen an die Deportation und das Ghetto Riga, ungedrucktes Typoskript (ca. 1946);
Ginsburg, Liesel: Eine Jüdin kehrt zurück, in: D. Sessinghaus-Reisch (Hg.): Erinnerte Geschichte. Frauen aus Mönchengladbach schreiben über die Kriegs- und Nachkriegszeit 1940-1950, Mönchengladbach 1993;
Ginsburg, Hans Jakob: Der Lebensretter. Über Alexander Ginsburg. In: M. Oeming/H. Liss, Juden in der Bundesrepublik Deutschland – Dokumentationen und Analysen, Heidelberg 2005, S. 13-36;
Schilly, Doris: Mitten unter uns – Jüdisches Leben in Mönchengladbach, Erfurt 2006
Text: Hans Ginsburg
Liesel Ginsburg geb. Frenkel wurde am 12.4.1915, wie ihr Vater Julius Frenkel, in Rheydt geboren. Ihr sieben Jahre jüngerer Bruder, Hans Frenkel, kam ebenfalls in Rheydt zur Welt. Mutter Julie Frenkel, die Tochter eines Pferdehändlers, kam aus Neuss.
Das Leben von Liesel Ginsburg vor der Deportation
Vater Julius war Inhaber der Firma Frenkel und Salomon in der Limitenstraße in Rheydt. Die Firma wurde 1886 vom Großvater, Benedikt Frenkel, gegründet. Sie bestand aus einer Fabrik und einem Geschäft, welche für die Aufbereitung und den Weiterverkauf von Textil- und Metallresten betrieben wurden. Die Wohnung der Frenkels befand sich direkt beim Betrieb in der Limitenstraße 38-40. Liesel ging bis zum NS auf das Rheydter Lyzeum. Wohnung und Betrieb der Frenkels wurden 1939 “arisiert“ und die Stadt zwang sie in ein sog. “Judenhaus“ in Rheydt zu ziehen.
Der Plan der Frenkels sah eine Emigration nach Brasilien vor. Es war bereits alles für die Ausreise vorbereitet, das Umzugsgut befand sich bereits im Hamburger Hafen als die Nazis Polen überfielen, der Zweite Weltkrieg ausbrach und Familie Frenkel doch nicht mehr Ausreisen konnte. 1941 wurden Liesel und ihr Bruder Hans gezwungen in einer Gärtnerei Zwangsarbeit zu leisten. Im gleichen Jahr wurde die Familie gezwungen den sog. “Judenstern“ zu tragen um schließlich am 10.12.1941 ins Ghetto nach Riga deportiert zu werden.
Die Deportation nach Riga
Als am 26.11.1941 der Bescheid zur Deportation eintrifft, ahnte Liesel schon was der Familie bevorsteht und so flehte sie ihre Eltern an, sich alle vier zusammen selbst das Leben zu nehmen. Die Eltern lehnten ab, da sie nicht ahnen konnten und wollten was ihnen noch bevorstand.
Am 10.12.1941 musste sich die Familie, schwer bepackt, zuerst in der Rheydter Stadthalle einfinden. Über den Gladbacher Bismarckplatz ging es dann zum Gladbacher Güterbahnhof wo ein Sonderzug bereit stand, welcher etwa 200 bis 300 Juden nach Düsseldorf brachte. Die zu deportierenden Menschen kamen aus Rheydt, Mönchengladbach und Umgebung. Liesel schrieb nach dem Krieg einen Erinnerungsbericht in welchem sie u.a. den Fußweg vom Güterbahnhof zum Derendorfer Schlachthof beschrieb. Sie berichtete von einem Spießrutenlauf und Leidensweg, auf welchem sie von der dort lebenden Bevölkerung angegafft worden sind und Soldaten begegnet waren, welche das Lied „Wenn’s Judenblut vom Messer spritzt“ gesungen hatten. Diese Stimmung auf dem Weg zum Schlachthof ließ die Betroffenen bereits erahnen was ihnen noch bevor stand. Nachdem sie 16 Stunden stehend im kalten und nassen Schlachthof verbringen mussten, wurden sie am nächsten Morgen zum Bahnhof gebracht um von dort aus die Zugreise nach Riga anzutreten. Liesel schilderte, dass den Zuginsassen nach dem dritten Tag die Vorräte an Trinkbarem ausgingen und sie sich die Eiszapfen von den Wagendächern holten um nicht zu verdursten. Am 14.12.1941 erreichte der Zug schließlich sein Ziel. Auf die Frage eines Insassen an einen SS-Mann, wo sie denn nun seien, antwortete dieser: „Sie sind in Riga. Sie werden morgen früh von der SS ausgeladen, in den Wald geführt und erschossen.“ (Rigabericht, Liesel Frenkel. S.2). Diese Drohung bewahrheitete sich glücklicherweise vorerst nicht.
Das Leben in Riga
Bei ihrer Ankunft im Ghetto wurden Liesel, ihre Familie und die anderen Deportierten jeweils zu zwölft in ca. zwölf Quadratmeter große Holzhäuser, untergebracht. Die Bewohnerzahl pro Haus verringerte sich im Laufe der Zeit durch Umquartierungen und Ermordungen. Die Häuser sahen so aus als ob sie kurz vorher noch bewohnt gewesen waren und die vorherigen Bewohner*innen die Häuser hatten schlagartig verlassen müssen. In diesen Häusern gab es nicht genug Betten, so dass viele auch auf dem Boden schlafen mussten.
Die Ghettobewohner*innen organisierten, mit den vorhandenen Ärzten und Krankenschwestern eine Krankenstation, sowie andere selbst organisierte Einrichtungen wie zum Beispiel Kleiderkammern und Schulen. An Nahrung gab es zuerst nur was die Deportierten bei ihrer Ankunft in den Wohnungen vorfanden. Diese Nahrung reichte laut Liesel nur für die ersten zwei Tage. Durch diesen Versorgungsmangel wurden viele bereits früh krank. Unter Lebensgefahr zogen einige Bewohner*innen los, um in den verschlossenen Häusern Lebensmittel aufzutreiben.
Liesels Bruder, Hans Frenkel, arbeitete bis zum 22.12.1941 in einem Arbeitskommando im Hafen von Riga. Am 22.12.1941 wurde er dann von der Familie getrennt und ins Lager nach Salaspils gebracht. (In der ca. 20 Kilometer von Riga entfernten Stadt Salaspils sollten Häftlinge Baracken bauen, da von den Nazis geplant war, das komplette Ghetto in Riga aufzulösen und die Bewohner*innen in Salaspils unterzubringen).
Liesel wurde für verschiedene Arbeitseinsätze eingeteilt. So musste sie anfangs zwölf Stunden pro Tag zum Schneeschaufeln in die Stadt Riga. Während dieser zwölf Stunden Arbeit, war es ihr erlaubt eine trockene Scheibe Brot zu essen. Eine andere Arbeit die sie verrichten musste war das Aufräumen von Wohnungen, aus denen lettische Juden zuvor heraus getrieben worden waren. Wenn die Arbeitskolonne beim Aufräumen Nahrung fand, durften sie diese mitnehmen. Das Mitnehmen anderer Gegenstände war verboten. So wurde eine Frau bei einer Stichprobe dabei erwischt wie sie Porzellan mitnahm: Sie wurde sofort auf den Friedhof geführt und erschossen. Danach arbeitete Liesel noch in einem der Wäschelager im Ghetto. Wäsche, welche von deportierten oder direkt getöteten Juden des Ghettos kam, wurde in diesem Lager gesammelt und musste von Liesel sortiert werden. Dabei nahm sie unter Lebensgefahr immer wieder das ein oder andere Teil mit um es später gegen Essbares zu tauschen. Nur so konnte man im Ghetto überleben, da die Essensrationen, welche für eine Woche gedacht waren, nur für einen Tag ausreichten. Außerdem arbeitete Liesel noch für einen Verkaufsladen, in welchem Wäschestücke und andere Gegenstände, von verstorbenen und ermordeten Juden, verkauft wurden.
Ab Juli 1942 war sie im Offiziersheim tätig. Dort lernte sie auch ihren späteren Ehemann Alexander Ginsburg kennen. Alexander Ginsburg war lettischer Jude, lebte im lettischen Teil des Ghettos und war im Offiziersheim mit Hausmeister- und Einkaufstätigkeiten zwangsweise beschäftigt. Liesels Vater, Julius Frenkel, arbeitete zu dieser Zeit in einem ständigen Arbeitskommando als Sanitäter am Bahnhof Skirotava, einem Außenbezirk von Riga. Auch Julius Frenkel versuchte bei dieser Arbeit ab und zu Kleidungsstücke gegen Brot mit den Bahnbeamten vor Ort zu tauschen. Liesel berichtete, dass alle Ghettobewohner*innen arbeiten wollten, da es neben der Möglichkeit an Tauschgegenstände zu kommen, in den meisten Kommandos mittags auch etwas zu essen gab.
Im Ghetto kam es zu dieser Zeit auch immer wieder zu willkürlichen Misshandlungen und Ermordungen von Ghettobewohner*innen durch die Nazis. Am 5.2.1942 kam es zur ersten sog. “Aktion“ im Ghetto. Dabei ging die SS von Haus zu Haus, nahm alle Schwachen, Alten und Kranken mit, um diese dann in den Wald zu fahren und dort zu ermorden. Die Gräber hatten zuvor andere Ghettobewohner*innen ausheben müssen. Die lettischen Juden waren getrennt und isoliert von den deutschen Juden im Ghetto untergebracht. Durch den Kontakt zu den lettischen Juden bei Arbeitseinsätzen, erfuhren die deutschen Ghettobewohner, dass vor ihrer Ankunft 40.000 lettische Juden im Ghetto untergebracht worden waren. Von diesen 40.000 waren nur noch 4.000 übrig geblieben. Die anderen 36.000 Juden waren zu dieser Zeit bereits von der SS ermordet worden. Auch von neu ankommenden deutschen Juden erfuhr die Familie Frenkel immer wieder vom Verschwinden von kranken jüdischen Deportierten. So kam es häufiger vor, dass Kranke, Alte und Schwache am Bahnhof aussortiert wurden, weil diese den Weg vom Bahnhof zum Ghetto nicht schnell genug bewältigen konnten. Diese Menschen so hieß es, sollten mit einem Auto gesondert zum Ghetto gebracht werden. Allerdings kamen sie dort nie an und wurden danach auch nie wieder von Ihren Angehörigen und Freunden gesehen.
Ende Februar 1942 kam es dann zur nächsten sog. “Aktion“ im Ghetto. Alle Bewohner*innen mussten sich auf der Straße vor ihre Häuser und Arbeitskommandos stellen und dann wurde von der SS sortiert. Entweder die Bewohner*innen durften direkt zurück zu ihren Wohnungen gehen oder sie wurden auf einer Liste notiert. Diese Liste bestand hinterher hauptsächlich aus alten und schwachen Menschen. Auf Nachfrage hieß es, dass diese Leute in eine Konservenfabrik nach Dünamünde kommen würden, da es dort leichtere Arbeit für sie gäbe. Nach ein paar Tagen wurden die notierten Bewohner*innen mit Lastwagen abgeholt.
Die Familie Frenkel beobachtete dabei das brutale Vorgehen der SS durch das Fenster ihrer Wohnung. Spätestens nachdem alle abtransportierten Bewohner*innen ihr komplettes Gepäck abgeben mussten und dieselben Lastwagen nach nur 25 Minuten wieder kamen um neue Leute abzuholen, ahnte die Familie Frenkel von dem Schicksal dieser “aussortierten“ Ghettobewohner*innen. Heute wissen wir, dass diese 2000 Menschen wie bei der ersten “Aktion“ im Hochwald “Bikernieki“, von der SS erschossen und begraben worden sind. (z.B. Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus 20, Die Deportation der Juden aus Deuscthland, von Monica Kingreen S.100). An diesem großen NS-Massengrab in Lettland befindet sich seit dem Jahr 2000 eine Gedenkstätte.
Liesel Frenkel berichtete, dass seit dieser zweiten “Aktion“, die Bestimmungen für die Ghettobewohner*innen immer härter und schärfer wurden. So gab es danach zahlreiche Fälle von Erschießungen und Erhängungen, weil Kleinigkeiten aus den Arbeitskommandos mitgenommen worden waren oder die Leute unerlaubterweise Bargeld besessen hatten und damit erwischt worden waren. Ein 19 Jähriger war beispielsweise mit 10 RM auf der Straße erwischt und sofort erhängt worden. Diese Erhängungen mussten oft von anderen Ghettobewohner*innen durchgeführt werden. Außerdem mussten alle Arbeitskommandos am Abend nach einer Erhängung auf dem Nachhauseweg am Galgen vorbei. Juden die dabei weg sahen wurden von der SS stark misshandelt.
Am 4.5.1942 wurde Liesels Vater nach Salaspils gebracht. Er war zu diesem Zeitpunkt bereits schwer vom Ghettoleben gezeichnet. Er hatte gerade eine Lungenentzündung hinter sich und konnte sich nur noch sehr schwerfällig mit einem Gehstock fortbewegen. Vom Bruder, Hans Frenkel, der schon vorher nach Salaspils verschleppt worden war, hatte die Familie bis dahin nichts mehr gehört. Zwei Wochen nach dem Julius Frenkel nach Salaspils transportiert wurde, kam ein Krankentransport aus Salaspils ins Ghetto. Als Liesel die vollkommen ausgehungerten Kranken sah, ahnte sie wie es in Salaspils zuging. An dem Tag wurde ihr auch von den Sanitätern berichtet, dass Ermordungen in Salaspils zur Tagesordnung gehörten und die Meisten dort einfach verhungerten.
Zwei Wochen später kam erneut ein Krankentransport mit Menschen aus Salaspils, welche unter Lausbefall litten, im Ghetto an. In diesem Transport befand sich auch Julius Frenkel. Liesel war zwar sehr glücklich ihren Vater wiederzusehen, allerdings war sie auch sehr schockiert darüber, wie er nach nur einem Monat in diesem Lager aussah. Er war ausgehungert, wog nur noch 39 kg und seine Gelenke waren stark geschwollen. Von Julius Frenkel erfuhren Liesel und Mutter Julie, dass Bruder Hans nun als Sanitäter im Lager Salaspils arbeiten und es ihm verhältnismäßig gut gehen würde. Aber auch er war Wochen zuvor dem Tode nahe. Er war 12 Wochen lang krank gewesen und hatte nur durch die Fürsorge seines Freundes, Walter Levy, überleben können. Da Kranke nur die halbe Essensration erhielten, war dies im Normalfall der sichere Tod.
Vater Julius war zwar zurück bei seiner Familie, jedoch ging es ihm gesundheitlich immer schlechter. Am 16.6.1942 starb er an völliger Entkräftung. Hans Frenkel kam mit einem weiteren Krankentransport aus Salaspils am 4.7.1942, sichtlich ausgehungert zurück nach Riga. Bei ihrem neuen Job im Offiziersheim, konnte Liesel täglich etwas zum Essen mit nach Hause nehmen und so Bruder Hans wieder zu Kräften bringen. Hans Frenkel blieb dann im Ghetto und arbeitete nach rund einem Monat auch wieder. 1943 musste Liesel ihre als angenehm empfundene Arbeit im Offiziersheim aufgeben und kam zu einer Torfstecher Kolonne. Eine sehr harte Arbeit, bei der es im Gegensatz zum Offiziersheim keine Möglichkeit der zusätzlichen Nahrungsmitnahme gab.
Die Zeit nach Riga bis zur Befreiung
Im November 1943 wurde das Ghetto in Riga schließlich aufgelöst. Julie Frenkel wurde wie viele andere Juden des Ghettos auch, nach Auschwitz deportiert und dort sofort ermordet. Eine Gruppe von 50 Ghettobewohner*innen, darunter auch Liesel und ihr Bruder Hans, blieben noch im Ghetto um alles Transportierbare für den Abtransport nach Deutschland vorzubereiten. Diese Arbeit dauerte bis April 1944. Bis dahin war diese Gruppe vor der Deportation in ein Konzentrationslager geschützt.
Im April 1944 kamen die beiden Frenkel Geschwister dann ins KZ Kaiserwald in einem Vorort nördlich von Riga. Lange blieben sie dort nicht, denn aufgrund der immer näher anrückenden Roten Armee wurde das KZ ab Sommer 1944 von den Nazis geräumt. Kurz vor der Räumung des KZ Kaiserwald, wurden alle Juden über 30 Jahren sowie alle Kinder von der SS ermordet. Zusammengepfercht unter Deck eines Dampfschiffes ging es am 6.8.1944 für Liesel und ihren Bruder Hans in Richtung Westen nach Danzig. Nach grauenvoller Fahrt im Hafen von Danzig angekommen, ging es weiter ins nah gelegene KZ Stutthof.
Bei der Ankunft im KZ Stutthof wurden Liesel und ihr Bruder Hans direkt getrennt und in verschiedenen, viel zu kleinen und unhygienischen Baracken untergebracht. Die stundenlangen Appelle, welche es täglich gab, machten Liesel sehr zu schaffen. Auch sehr zu schaffen machte ihr der Gedanke an den aufsteigenden Rauch aus den Verbrennungsöfen. Das KZ Stutthof hatte auch eine Gaskammer. Liesel hatte bereits in Riga erfahren, dass es bei den Nazis eine gängige Praxis war, Jüdinnen und Juden zu vergasen. Sie wollte unbedingt raus aus diesem KZ. Deshalb meldete sie sich zum Arbeitseinsatz als ein neues Außenkommando zum Straßenbau gegründet wurde und kam in ein Außenlager. Die Arbeit war körperlich sehr anstrengend, musste in großer Kälte und oft unter Schlägen der Wächter bewältigt werden. Einmal verletzte sie sich sogar schwer durch eine kippende Lore. Anfang März mussten die Nazis das Lager aufgrund der immer näher anrückenden Roten Armee räumen. Für Liesel und über 400 weitere Frauen aus ihrem Lager ging es damit auf einen dreitägigen Fußmarsch. Im Lager blieben noch 60 kranke Frauen zurück, welche am Folgetag ermordet wurden.
Nach der Befreiung
Als die Gruppe nach drei Tagen am 10.3.1945 einen leer stehenden Gutshof erreichte, ging alles plötzlich ganz schnell. Die begleitenden SS-Männer nahmen sich Zivilkleidung aus den Kleiderschränken des Guts und flohen. Kurz darauf erschien die Rote Armee und nahm den Gutshof ein. Liesel und ihre Leidensgenossinnen waren nun frei. Vollkommen entkräftet schloss sich Liesel mit vier anderen Frauen zusammen um etappenweise westwärts Richtung alter Heimat vorzurücken. Liesel hoffte in Rheydt ihren Bruder wieder zu treffen. Probleme bei ihrer Reise entdeckt zu werden hatten sie nicht. Alle Menschen die sie sahen waren auf der Flucht vor der Roten Armee oder mit anderen Problemen beschäftigt und so ging es auf den Straßen ziemlich chaotisch zu.
Probleme machte der Gruppe allerdings die völlige Entkräftung. Auf einem Bauernhof an dem sie vorbei kamen, fanden sie ein geschlachtetes Schwein, welches sie im Ofen zubereiteten. Die ausgehungerten Körper waren allerdings kein Fleisch und auch keine normalen Portionen gewöhnt, so dass die Gruppe daraufhin an Typhus erkrankte. Sie erreichten schließlich die bereits befreite Kleinstadt Lauenburg in Hinterpommern, um sich dort bis zum Kriegsende niederzulassen. Nach dem Kriegsende reiste die kleine Gruppe mit dem Zug weiter. Auf der Fahrt erfuhren sie von einem jüdischen Krankenhaus und Altenheim in Berlin, wo sie bei Ankunft aufgenommen und versorgt wurden.
HIer erfuhr sie von Günther Lippmann, dass ihr Bruder zuletzt in Bochum gewesen war und dort hatte Zwangsarbeit leisten müssen. Das Lager in Bochum war Anfang März von den Nazis geräumt worden und die Insassen waren auf einen Fußmarsch in Richtung Stammlager, dem KZ Buchenwald, geschickt worden. Günther Lippmann hatte während dieses Marschs fliehen können. Liesel machte sich große Sorgen darüber, dass ihr Bruder diesen Marsch vielleicht nicht überlebt hatte.
Teils zu Fuß und teils per Zug zog die kleine Gruppe am 24.6.1945 weiter Richtung Westen. Liesels Füße waren nicht mehr in der Lage sie zu tragen. Die anderen vier Frauen organisierten einen kleinen Leiterwagen, mit dem sie Liesel abwechselnd ziehen konnten. Die Gruppe fand glücklicherweise immer mal wieder nette Leute bei denen sie übernachten konnten.
Am 25.7.1945, also viereinhalb Monate nach ihrem Aufbruch aus der Nähe von Stutthof, kam Liesel spät abends am Rheydter Bahnhof an. Bei ihr war noch ihre Freundin und Weggefährtin Martha Löwenstein, die ebenfalls aus Rheydt kam. Da es nachts eine Ausgangssperre gab, mussten sie noch im Bahnhof übernachten ehe sie sich am nächsten Morgen aufmachten um Liesels Bruder in der Stadt zu suchen. Sie gingen direkt zum Wohnhaus des ehemaligen Hausmädchens der Familie, in der Hoffnung dort auf Liesels Bruder zu treffen. Doch Liesels Bruder war nicht dort. Später stellte sich heraus, dass auch er, wie der Rest von Liesels Familie, von den Nazis ermordet worden ist. Er war in Buchenwald ums Leben gekommen.
Liesel kam vorerst bei ihrem ehemaligen Hausmädchen unter und Martha bei einem entfernten Verwandten in Rheydt. Dies sollte jedoch nicht von Dauer sein, da beide zusammen eine neue Wohnung beziehen wollten. Auf der städtischen Wohnungsstelle wurde den beiden eine verlassene, möblierte Wohnung angeboten. Dort wollte Liesel jedoch nicht einziehen. Zu gut erinnerte sie sich, dass ihre Familie die eigene möblierte Wohnung hatte zurücklassen müssen und in einer solchen Wohnung konnte Liesel nicht leben, egal wie groß und schön diese Wohnung auch war. So hatten Liesel und Martha Glück, dass Marthas entfernter Verwandter von einer komplett leeren Wohnung eines ehemaligen Nazifunktionärs wusste und die beiden dort einziehen konnten.
Vom Antisemitismus bekam Liesel in dieser Zeit nicht viel mit, weshalb sie auch in Rheydt bleiben konnte und wollte. Liesels Eltern waren vor ihrer Deportation in Rheydt sehr bekannt und geschätzt gewesen. Dadurch bekam Liesel nach ihrer Rückkehr viel Hilfe von den Leuten in Rheydt. So auch von einem alten nicht-jüdischen Freund der Familie, in dessen Fabrik Liesels Vater vor der Deportation noch drei Kisten mit Hab und Gut der Familie hatte lagern können. Dieser Freund brachte Liesel die Kisten vollständig und unversehrt nach ihrer Rückkehr zurück. Dadurch hatte sie Gegenstände zur Verfügung die zur damaligen Zeit als Luxus galten. Dazu zählten Dinge wie eine Schreibmaschine, Porzellan und Kristall. Ernähren konnten sich Liesel und Martha anfangs durch Lebensmittelkarten und dem Geld vom Finanzamt, welches Liesels Familie während des NS abgenommen worden war und ihr nun zurückgegeben wurde.
Durch die Hilfe eines weiteren ehemaligen Geschäftsfreunds ihres Vaters, Herrn Kalderoni, konnte Liesel sich sogar ein Ladenlokal anmieten und im November 1945 ein Textilgeschäft eröffnen. Herr Kalderoni belieferte Liesel mit Waren, welche sie dann verkaufen konnte. Auch Martha half mit, indem sie Schürzen zum Verkauf nähte. Das Geschäft lief aufgrund der hohen Nachfrage sehr gut. Weihnachten wurden Liesel und Martha von ihren Vermietern eingeladen und das Zusammenleben funktionierte gut.
Doch der Verlust ihrer Familie wog schwer auf Liesel und die Fragen der vielen Leute nach dem Erlebten belasteten sie schwer. Um sich nicht noch mehr zu belasten, betrieb Liesel keine Nachforschungen über die dunkle Nazi-Vergangenheit der Menschen in ihrer Umgebung. Sie beteiligte sich aus Selbstschutz nicht an der Entnazifizierung. Sie wollte einfach ein neues Leben in ihrer alten Heimat beginnen. 1949 heiratete sie Alexander Ginsburg, den sie im Offiziersheim des Rigaer Ghettos kennenlernte. 1951 bekamen die beiden einen Sohn, Hans Jakob Ginsburg und zogen nach Köln.
Text: Stefan Mühlhausen
Der Stammbaum wird aktuell überarbeitet und ist bald wieder verfügbar. Vielen Dank für Ihre Geduld.